Schmiede und Brennereien im Stadtkern
In den Jahren davor arbeitete man in den Betrieben noch viel mit Kupfergeräten, die von speziellen Kupferschmieden und Spezialmonteuren betreut werden mussten. Erst mit der Umstellung auf Eisen und Stahl beauftragten die Brenner auch örtliche Handwerker und Schmiede mit allen anfallenden Arbeiten. So mussten die Dampfmaschinen, die Rohrleitungen und Ventile regelmäßig gewartet, repariert oder ausgewechselt werden.
Ich erinnere mich, dass so gut wie alle Sendenhorster Brennereien mit gebraucht gekauften Dampfkesseln arbeiteten, die sich wenig voneinander unterschieden. Einige Kessel hatten innen ein gewelltes sog. Flammrohr. Es gab aber auch Röhrenkessel, die eine größere Heizfläche hatten und deshalb schneller Dampf produzieren konnten. Sie waren aber empfindlicher und mussten öfter gereinigt werden.
Abb.22: Innenraum Brennerei Rötering
Unsere Schmiede lag genau gegenüber Graute. Das Grautesche Wohnhaus mit Tenne und Brennerei an der Ecke Weststraße/Schleiten ist heute im Besitz der Familie Kleinhans. Auf dem Parkplatz, der sich jetzt hinter dem Haus befindet, standen ein Speicher und ein Haus der Familie Bücker.
Abb.23: Haus Münstermann an der Weststraße; im Hintergrund die Einfahrt von Graute
Heute sind im Wohnhaus Arztpraxen untergebracht. Genau an dieser Stelle befand sich die Tenne und davor die Hofeinfahrt, die durch eine Mauer mit Spitzbogentor von der Straße abgeschirmt war. Die Diele des Hauses war mit Bruchsteinplaster gepflastert.Von dort aus konnte man direkt in die Brennerei gehen, die zur Liebesgasse hin lag. Auf der Tenne standen rechts die Schweine und links ca. 22 Kühe. Einen Misthaufen hatte man nicht – das hätte Frau Graute nicht geduldet. Stattdessen stand werktags und sonntags permanent eine Mistkarre auf dem Schleiten. Als sich die Anlieger darüber beschwerten, wurde die Karre zumindest am Sonntag auf die Tenne gefahren. Das Wohnhaus, in das man über den Eingang an der Weststraße gelangte, hat sich wenig verändert. Die Mauer und die Stallungen wurden dagegen restlos abgebrochen.
Abb.24: Luftbild des Hofes und der Brennerei Graute (heute Kleinhans)
Abb.25: Situationsplan Graute (1923)
Wenn ich mich an meine Kindheit zurückerinnere, dann muss ich sagen, die Brennereien brachten viel Leben in die Stadt. Den ganzen Tag über liefen die Dampfmaschinen bzw. Dampfkessel. Die fauchten wie eine Lokomotive, wenn man eine Brennerei betrat. Das war eine herrliche Sache! Aber auch wenn man auf der Straße war, dann war da der Dampf und der Geruch der Schlempe, die durch das ganze Städtchen zogen und man hörte das Vieh muhen und das Rasseln der Ketten. Zudem lief heißes Wasser aus den Brennereien in den Rinnstein. Bei Everke holten sich die Nachbarn das Wasser zum Putzen und Baden; bei Sommersells bedienten sich die Familien Decker, Brüggemann und die Schule. Im Gegensatz zu den kleineren Ackerbürgern hatten die Brennereibetriebe viele Tiere, um die Schlempe zu verfüttern. Die Brenner waren deshalb ständig mit dem Fahren von Mist und Jauche in Fässern beschäftigt. Und an Sommertagen wurden die Tiere quer durch die Stadt auf die Weide getrieben. Die hatten ja alle auch Milchkühe.
Abb.26: Weststraße mit altem Sommersellschen Haus links, Haus Rötering rechts
Im Krieg erzeugten die Brenner die weniger wertvolle Zuckerschnitzelschlempe, die mit dem damals noch hölzernen Jauchefass auf den Wiesen verteilt wurde. Dort wo heute der Uhrenladen Mütherig ist, gab es einmal einen schweren Zwischenfall: Ein Mann fuhr mit zwei Pferden und einem Jauchefass voller heißer Schlempe (80-100 Grad) in Richtung Bahnhof, als sich plötzlich das Endstück des Fasses löste. Die heiße Schlempe ergoss sich über die Hacken der Pferde auf die Straße. Die Pferde gingen durch und konnten erst bei dem Bauer Tüte gestoppt werden. Mit Besen und Eimern musste die Schlempe von der Straße entfernt werden.
Auf der Schulstraße gab es ja damals noch keine Kanalisation. So lief z.B. das warme Wasser aus der Brennerei Sommersell zwischen dem Wohnhaus und dem Nachbarn Meyer auf die Weststraße und von dort bis zum Haus Schrei, wo der Abwasserkanal erst anfing.
Abb.27: Kastenwagen vor der Gaststätte und Brennerei Jönsthövel
„Jeden Monat musste das Brennmaterial – es handelte sich hier vor allem um Roggen – angefahren werden. Zu der Zeit kauften die Brennereien das Getreide noch nicht bei der Genossenschaft sondern bei der EDG, die dann einen Waggon nach Sendenhorst schickte, der z.B. unter drei Brennereien aufgeteilt wurde (im Westen waren das Graute, Arens-Sommersell und Rötering).Vielleicht dreimal an einem Tag wurde die gesackte Ware mit großen Kastenwägen, die mit Pferden gezogen wurden, vom Bahnhof zu den Brennereien in der Innenstadt gebracht. Stadteinwärts ging es über die Weststraße, stadtauswärts über die Schulstraße.
Abb.28: Ehemaliges Haus Silling an der Weststraße (Westen-Silling)
Ab den 50er Jahren, als der Verkehr zunahm und man das Getreide immer mehr mit Treckern und Hängern anlieferte, stand am Eingang des Grauteschen Wohnhauses die Haushälterin - die „Tetta“ (Grete) - mit einer roten Fahne, um den Verkehr zu warnen. Sie stand da vielleicht eine Dreiviertelstunde, eben so lange, bis alle Zweizentnersäcke über den Lastenkran nach oben auf den Speicherboden gezogen waren (heute Ausstellungs- und Konzertraum der Familie Kleinhans).
Abb.29: Grabstein des Brennereibesitzers Silling
Ich erinnere mich, dass bei Grautens immer eine kleine Karaffe mit Schnaps und ein Pintchen standen. Abends bekamen alle Mitarbeiter – auch die Zwangsarbeiter (während des Krieges waren ein Holländer, ein Pole und ein Russe dort beschäftigt) – ein Schnäpschen. Einmal passierte etwas,womit niemand gerechnet hatte. Herr Eilermann (der Vater von Heiti Eilermann) hatte beim Kalkstickstoffstreuen mitgeholfen und offensichtlich die Verarbeitungs-Vorschriften nicht beachtet.Vor dem Essen gab es dann das bewusste Schnäpschen, was in Verbindung mit den Kalkstickstoffresten zu schweren inneren Verbrennungen führte.„Westen-Silling“
In unserer Nachbarschaft gab es noch „Westen-Silling“. Das war eine relativ kleine Brennerei schräg gegenüber dem Krankenhaus am Westtor. Bis in die 50er Jahre arbeitete man dort nur mit einem Niederdruckkessel, der aus dem Krankenhaus stammte und das Aussehen einer schwarzen Blechkiste hatte, um die man einige Steine gesetzt hatte. Frau Silling betrieb dort auch ein Textilgeschäft. Ihr Mann beschäftigte sich vorrangig mit dem Kornbrennen. Er stellte schon sehr früh Liköre her, die er auch selbst vermarktete. Das war zu einer Zeit, als alle anderen sich noch ausschließlich mit Korn und Wacholder beschäftigten.
Kein Angehöriger dieser Brennereifamilie Silling am Westtor lebt heute noch in Sendenhorst. Das einzige Relikt, das noch an sie erinnert, ist ein wertvoller, alter Grabstein, der nach einer längeren Einlagerungszeit erst vor kurzem auf dem Sendenhorster Friedhof als historisches Zeugnis wieder aufgestellt wurde.