Die Gastwirtschaft und frühere Brennerei Suermann
Wir hatten einen größeren Jagdwagen. Drei Personen saßen auf dem Rücksitz, vier Kinder auf dem Sitz gegenüber, zwei Kinder zusammen mit dem Kutscher auf dem Bock. Der Wagen war im Sommer offen; im Winter wurden Seitenteile und ein
Verdeck mit “Druckknöpfen” befestigt. Oft fuhren wir auch zweispännig. Angespannt
wurden die Pferde, die für die Sämaschine und leichtere Arbeiten gebraucht wurden.
Mein Vater legte großen Wert auf gutes, gepflegtes Pferdegeschirr und gesäuberte Hufe.
Mutter sorgte für die Sauberkeit der Laternen, in denen Wachskerzen brannten. Für
Abb.130: Die Ausspannstätte Gaststätte Peiler (Bild Bernd Höne)
104
den Winter besaßen wir extra warme Kutschwagendecken und eine kupferne Wärmeflasche für die Füße.Wir spannten die Pferde grundsätzlich beim Gasthaus Suermann aus. Unsere jungen Eleven (Lehrlinge) waren für das Ausspannen zuständig. Die Pferde wurden im Stall angebunden, mit Heu oder Stroh gefüttert und mit Wasser getränkt. Die Decken nahmen wir mit ins Gasthaus,wo sie für die Rückfahrt aufgewärmt wurden. Jede Familie hatte in der Kirche ihren bestimmten Platz, ihre Bank. Da streng auf die Einhaltung des „Nüchternheitsgebotes“ geachtet wurde, freuten wir uns alle nach der heiligen Messe auf eine Tasse “Mukefuk” und Zwieback, die uns bei Suermann erwarteten. Und wenn es kalt war, bekamen wir Boullionsuppe und Brötchen. Die Geschäfte waren damals sonntags geöffnet. Man kaufte bei Zimmermann-Lüke Lebensmittel wie Zucker, Rosinen, Haferflocken und Hefe ein, bei Familie Holtel Textilien. Mit der Familie Holtel waren meine Eltern und Tante Christine sehr befreundet. An Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Maria Himmelfahrt gab es ein extra Essen bei Holtels.
Abb.131: Gasthof Suermann am Kirchplatz (heute Ärztehaus neben Apotheke)
Abb. 132: Werbung Suermann
105
Als wir Kinder größer waren, machten wir uns schon oft zu Fuß auf den Weg nach Hause. Die Gaststube im Erdgeschoss befand sich auf der rechten Seite des Hauses. Beim Betreten des Gasthauses hatte man den Eindruck, in einer großen Kochküche zu sein. Rechts befand sich eine kleine Theke mit einer mit Wasser gefüllten emaillierten Schüssel, die als Spülbecken für die Gläser benutzt wurde. Fließendes Wasser gab es nicht. Drei kleine Tische waren im Raum verteilt. In der linken Ecke stand der Kochherd, der den Raum wärmte und zugleich zum Kochen der Speisen diente. Rechts vom Hauptraum lag ein Gästezimmer, in dem zwei längere Tische mit Stühlen standen und in dem unsere Familie gewöhnlich saß. Dieser Raum wurde durch einen gusseisernen Ofen erwärmt, der auch das Nebenzimmer heizte und von dort aus befeuert wurde. In diesem Nebenzimmer, das nur über ein Fenster verfügte und sehr dunkel war, befanden sich ein Sofa, ein Tisch, ein kleiner Sessel und einige Stühle. Hier aßen die beiden Wirtinnen, die wir Tante Trudi und Tante Fine nannten. Oft durften wir bei ihnen mit essen.Vom Hauptraum aus führte die Treppe zum Schlafraum der beiden Wirtsleute, zu den oberen Zimmern und zum sog. Saal, wo der Kirchenchor Cäcilia tagte. Alle Räume waren nicht beheizbar.Tante Trudi und Tante Fine schliefen in einem „eineinhalbschläfrigem“ Bett, das frei in dem großen Raum stand.
Abb.133: Hochzeitszug vor der Gaststätte Suermann
106
Ich erinnere mich, dass der Raum mit schönen alten Schränken, einer Spiegelkommode und einem Wäscheständer möbliert war. Da die beiden Frauen Asthma hatten, saßen sie mehr im Bett, als dass sie lagen. Mit guter Leinenwäsche waren die Betten bezogen; der Ausdruck “wie kourmt houch her” wurde oft betont. Ihre Mutter kam von dem großen Hof Roxel aus Beckum.Trudi Suermann fiel durch ihren Wortschwall auf, sie “schanduldelte”, ich verstand vieles nicht. Aber eines wusste ich - es war die Partei und die dazugehörigen Leute, die sie be-schimpfte. Ein 87jähriger Mann erzählte mir, wenn jedes Wort ernst genommen worden wäre, hätte das Leben der Frauen im KZ geendet. Sie hielten ihren “Schnabel” nicht.Viele Dinge habe ich in Erinnerung.Trudi Suermann verschönerte ihre Haare mit der Brennschere.Von meiner Mutter kannte ich so etwas nicht. Die drehbare Eisenlockenschere wurde in die Feuerung des Kochherdes erhitzt. Nach einiger Zeit, als sie fast glühend war, wurde an
Abb.134: Grundriss des gesamten Anwesens Suermann. Räume 1-3 waren die Gasträume.
107
einem Zeitungspapier geprüft, ob sie zu heiß oder passend war. Ich habe das Geklappere der Schere noch in meinen Ohren. Zum Abkühlen wurde sie so lange gedreht, bis die richtige Temperatur erreicht war. Dann wurde die Lockenschere in den Haarschopf gedrückt. Heute glaube ich, dass viele Haare dabei angesengt wurden. Trudis hatte in ihrem Unterkleid, einem festen Unterrock, eine besondere Tasche. Hier griff sie rein um Geld zu wechseln, Schlüssel zu suchen und vielleicht auch ein Taschentuch aufzuheben. Fine Suermann hielt sich mehr im hinteren Bereich des Hauses, auf der Tenne und in den Stallungen, auf. Sie war für das Melken der drei Kühe zuständig; sie drehte mit der Hand die Rübenschneidemaschine und sorgte für die Sauberkeit im landwirtschaftlichen Bereich. Da zu der Gaststätte früher eine Bäckerei und eine Brennerei gehörten, waren die
Räumlichkeiten dementsprechend groß.
Mit dem Tod von Gertrud (Trudi) Suermann im Jahre 1959 verschwand der Name aus Sendenhorst, was in der Todesanzeige mit dem Ausdruck “der Name geht von uns fort” deutlich gemacht wurde.
Anmerkung zur Gaststätte Suermann (Dieter Obermeyer)
Es war üblich, dass die jungen Männer, die Soldat werden sollten, sich bei Suermanns vor der Musterung trafen. Dort wurden die Lieder eingeübt, die wir dann gesungen haben:“Nach Beckum marschieren wir; da werden wir physentiert; ob wir tauglich, ob wir brauchbar, ob wir brauchbar sind zum Dienst. Juffi Fallerallala! Grüß das Mädchen noch einmal; ob wir brauchbar sind zum Dienst.“ Der Text „Unser Kaiser Wilhelm hat selber gesagt, dass junge Leute müssen werden Soldat“ wurde umgedichtet in „Unser Führer Adolf Hitler hat das selber gesagt…“ Und kurz vor der Einberufung gab es noch einen Marsch durch Sendenhorst, der stets am Kriegerdenkmal endete. Es gab auch ein Lied über den „Öhm an der Muer“, der in der Regel der Zweitgeborene war und den Hof nicht erben konnte. Er hatte aber ein Wohnrecht auf Lebenszeit. In vielen Fällen hat er an der Mauer gesessen, das Herdfeuer vor sich.