Geschichte Everswinkel

Die Anfänge der Besiedlung

Es liegt eine Reihe von Indizien dafür vor, dass die Besiedlung des Everswinkeler Raumes von der relativ dicht besiedelten Emsaue ihren Ausgang nahm und zunächst dem Bachlauf des Mußenbaches folgte. An seinem Unterlauf befindet sich eine Drubbelsiedlung
von mehreren Höfen. Südlich davon liegt der Hof Suttorp, den ich mit „Trupp im Süden“ deuten möchte; süd-östlich ist der Hof Averfeld zu finden „über dem Feld“. Das heißt, dass die namengebenden Höfe im Norden liegen, näher bei der Mündung des Mußenbaches,
und damit die älteren sind.
Vom Mußenbach aus erfolgte die weitere Besiedlung entlang dem Hagenbach und dem Kehlbach, der der Angel zufließt. Die Wasserscheide fällt ziemlich genau mit der Bergstraße im Dorfkern zusammen. Hier am Kehlbach stoßen wir auf eine ziemlich ungewöhnliche Siedlungskonstellation, auf die schon Rosenbohm aufmerksam machte. Rings um das heutige Dorf liegen auf einem Dreiviertelkreis im Abstand von etwa 500 m eine Reihe von großen Höfen: Schulze Kelling, Schulze Westhoff, Homann, Grothues, Große
und Lütke Winkelsett, Haus Langen. Nur im Süden fehlen in unmittelbarer Nähe des Dorfes die Höfe aus einem durchsichtigen Grund. Dort verläuft der Everswinkeler Berg, auf dem die Mergelschichten der Kreidezeit bis fast an die Oberfläche reichen und der
daher für Ackerbau ungeeignet war. 
Im Mittelalter bis ins neunzehnte Jahrhundert wurde er als Allmende, als gemeinsam genutztes Gemeindegut verwendet. Auch ein Halb- oder Dreiviertelkreis hat einen Mittelpunkt, und man könnte annehmen, dieser Mittelpunkt sei das Dorf. Dem ist nicht so. Ein Dorf oder einen Dorfkern gab es noch nicht, wie ich später zeigen werde. Nachweislich älter als die Bebauung im Dorf sind die Höfe Schulze Kelling und Schulze Westhoff. Sie werden bereits in einem Güterverzeichnis des Klosters Überwasser in Münster, gegründet 1040, vor 1100 erwähnt. Wer war dann der Mittelpunkt dieses unvollständigen Kreises? Die Antwort kann nur lauten:
das ehemalige im Südwesten des heutigen Ortes gelegene Haus Borg und das im Südosten des Dorfes angesiedelte Haus Langen (Diepenbrock), die aus einer Teilung hervorgegangen sind.

Die Gründung der Pfarrei

Haus Borg oder die Adelsfamilie, die damals auf dem Gut saß, ist verantwortlich für die Gründung der Pfarrei und den Bau der Kirche als Eigenkirche um 867 n. Ch., denn nur der Adel besaß das Vermögen und die Mittel, und das heißt in der Zeit der Naturalwirtschaft
Grund und Boden, um den Unterhalt der Kirche und des Pfarrers sicherzustellen. Das Jahr um 867 oder, wenn Sie so wollen, die spätkarolingische Gründung der Anlage ist gesichert durch das Patrozinium des Hl. Magnus der Kirche von Everswinkel. Im Bistum
Münster ist sie die einzige Kirche, die St. Magnus als Hauptpatron führt. Seine Gebeine wurden nach Ausweis der Xantener Annalen 866 dem Bischof Liudbert von Münster mitgegeben. Ausgrabungen in der Kirche weisen auf einen spätkarolingischen Kirchenbau hin. In der Nähe der Kirche unter dem Jüttnerschen Haus wurden bei Arbeiten Baumsärge gefunden. Hierzu Otfried Elger: „Christliche Bestattungen in Baumsärgen sind in Westfalen von der Missionszeit im späten 8. bis ins 10. Jahrhundert üblich.“
Dass die Everswinkeler Kirche eine Eigenkirche des Hauses Borg war, lässt sich an einigen Fakten festmachen: 1. Das Haus Borg besaß die „Triftgerechtigkeit“, das Recht, Viehweiden zu lassen, auf dem „Brümskamp“ und auf der Heerstraße (Weg nach Münster)
soweit sich die Gründe des Hauses Borg und des Pastors von Everswinkel erstrecken. 2. Die Ländereien des Hauses Borg und der Kirche liegen verzahnt nebeneinander. So ist der Kirchplatz Kirchengrund; westlich davon gehören dem Grafen von Galen, dem Erben
des Hauses Borg, die Nutzflächen, und nördlich davon sind sie wiederum im Besitz der Kirche. Und nicht nur dort liegen die Ländereien des Hauses Borg und der Kirche nebeneinander. 
Werfen wir nun einen Blick auf die Pfarrgrenzen. Sie bilden einen ziemlich unregelmäßigen Kreis mit einem Radius von 4-6 km um das Dorf, oder besser um die Kirche. Sie halbieren in etwa die Abstände zu den größeren Nachbarorten Hoetmar, Sendenhorst,
Wolbeck, Telgte, Warendorf und Freckenhorst, wobei Alverskirchen einzubeziehen ist, denn es wurde 1203 von Everswinkel abgesondert. Beweis: die Grenze zwischen Everswinkel und Alverskirchen verlief im Abstand von 2:1 zwischen den beiden Orten, und noch 1619 ist eine gemeinsame Prozession am Vitustag, dem Tag des Gemeindepatrons, bezeugt. Sie nahm ihren Ausgang an der Kirche in Everswinkel, durchzog das Gebiet beider Pfarreien und kehrte zur Everswinkeler Kirche zurück.
Nur im Nordwesten wird ein deutlicher Einschnitt in den Pfarrbezirk sichtbar. Er findet seine Erklärung in der Existenz des Haupthofes Raestrup, der zum bischöflichen Tafelgut und zu Telgte gehörte. In Everswinkel war das Domkapitel reich begütert; zum bischöflichen
Tafelgut gehörten nur zwei kleinere Höfe.

Wenn Everswinkel eine Eigenkirche war, so darf man wohl annehmen, dass sich die Pfarrgrenzen mit dem Einflussbereich des Hauses Borg deckten, was wiederum den Schluss zulässt, dass die adelige Familie auf Haus Borg über eine bedeutende Macht im
hiesigen Raum verfügte. Ein Indiz dafür könnte das Einkommen des Pfarrers von Everswinkel
sein. Im Jahre 1313 betrug es 12 Mark. 
Zum Vergleich seien die Einkommen der übrigen Pfarrer des alten Kreises Warendorf genannt:
Everswinkel 12 Mark Hoetmar 5 Mark
Alverskirchen 9 Mark Freckenhorst Dekan 10 Mark
Ostbevern 9 Mark Harsewinkel 8 Mark
Milte 3 Mark Ostenfelde 6 Mark
Westkirchen 3 Mark Füchtorf 5 Mark
Greffen 4 Mark Einen 3 Mark
Warendorf / Alte Kirche 25 Mark
Warendorf / Neue Kirche 8 Mark
[Tibus, Gründungsgeschichte, S. 156, 160]

Die Entwicklung des Dorfes

Am Anfang waren die Bauernhöfe. Über die Entstehung des Dorfkerns schreibt A. Schröder in seinem Beitrag zur Festschrift zum 1100-jährigen Bestehen der Gemeinde: „Im Umkreis der mit Schutzanlagen ausgestatteten Wehrkirche gruppierten sich [...] eine Anzahl
Stätten, die sogenannten Spiker. Sie dienten den damaligen Höfen der im Kirchspiel Everswinkel gelegenen Bauernschaften in Kriegs- und Fehdezeiten als schützende Unterkunft für Mensch und Vieh sowie in Friedenszeiten als Getreidespeicher.“
Was von diesen Aussagen hat Bestand? Dass die alte romanische Kirche eine Wehrkirche war, lässt der noch bestehende, fast ungegliederte Turm, um 1250 vollendet, leicht erkennen.
Mit seinen Schießscharten im unteren und mittleren Bereich weist er Festungscharakter auf. Nachzuweisen ist auch ein Wall im Norden und Osten des Kirchhofs; ein Wall aber nur an zwei Seiten der Anlage macht keinen Sinn. Er wird den ganzen Platz umschlossen haben. Ein umfassender Graben ist möglich, aber bisher nicht nachzuweisen
...
Von den 21 Hausstätten (1616) sind zehn Gademe, die übrigen sind durch den Familiennamen
bezeichnet. Fünf Gademe sind Bauernhöfen zuzuordnen. Alle Hausstätten zahlen Kirchhofsheuer an den Pastor; die fünf Bauerngademe erheblich weniger als die übrigen. So lassen sich folgende Schlüsse über die Bebauung des Kirchplatzes ziehen. Der Kirchplatz
war Eigentum des Pastors bzw. der Kirche von Everswinkel. Auf diesem Grund und Boden ließen fünf Höfe Gademe errichten, die restlichen Gademe ließ der Pastor erbauen.
..
Das Ergebnis der Untersuchung über die Wohn- und Sozialverhältnisse im Dorfkern ist überraschend. Statt der erwarteten Handwerker, Kaufleute, Krämer und Wirte finden sich nur Tagelöhner und arme Leute. Tagelöhner stehen in keinem festen Arbeitsverhältnis
und werden nur bei Bedarf z. B. in der Erntezeit angeheuert und nach geleisteter Arbeit und Stundenzahl entlohnt. Sie waren damit vollständig abhängig von den Bauern, die ihre Dienste in Anspruch nahmen. Im Dorf wohnten die Unterschichten des Kirchspiels,
abgesehen vom Pastor, dem Küster, dem Schulmeister und dem Wirt des Kirchspielhauses. ..

Aus dem Jahre 1750 liegen uns mit dem Statuts Animarum genaue Angaben über die Einwohner der Pfarrei vor. Sie ergeben folgendes Bild:
Weber 61
Tagelöhner 33
Schneider 10
Zimmerleute 5
Schuster 5
Schmiede 3
Wirte 3
Maurer 1
Kaufmann 1
(Liselotte Sanner, Kirchspiel und Dorf Everswinkel, Beiträge zur Chronik, Everswinkel 1992, S. 60/61.)

Erst jetzt kann man von einer organischen, entwickelten, arbeitsteiligen Gesellschaft in der Pfarrei Everswinkel reden, allerdings mit einer überwältigenden Dominanz des Weberhandwerkes, das von jedem zweiten Gewerbetreibenden ausgeübt wird. Zum bisherigen
Wirtschaftsfaktor Landwirtschaft kommt ein zweites Wirtschaftsstandbein: 
Die Leineweberei. Noch nicht geklärt ist die Frage, woher dieser plötzliche Impuls zum Aufbau und Ausbau dieses Gewerbezweiges kam. Hinweisen kann man auf eine Verbindung zur nahe gelegenen Stadt Warendorf, denn dorthin lieferten die Everswinkeler Weber ihre
Tuche ab und die Everswinkeler Weberrolle, also die Zunftsatzung, von 1775, lehnt sich eng an die älteren Warendorfer und Freckenhorster Rollen an. Möglich sind aber auch Beziehungen zu Holland. Die landsmannschaftliche Vereinigung westfälischer Webergesellen in Harlem mit Aufzeichnungen von 1720 bis 1743 führt sieben Personen aus
Everswinkel auf. (Heimatblätter „Die Glocke“ Nr. 1, 02.11.1949)

Die Weber
..
Die ersten Einbußen in der Produktion und im Handel wurden durch die Kontinentalsperre Napoleons von 1806 verursacht, als der französische Kaiser den Handel mit England 1806 unterband, um England wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Die Auswirkungen werden durch den Bericht eines Everswinkeler Zeitgenossen, des Küsters Theodor Herman Helmken, drastisch und bildnah vor Augen geführt. Er schreibt: „nun wurden schwischen unsers land und fransösichs eine linnige besogen von leute die man
duwanen nente, sie wahren Reuber und nahmen die leute die aus den bergieschen in fransosichen mit Leinnen oder sonstigen wahren wolten handelen und nicht angaben, wurde es) die wahre wechgenommen die leute wurden ins gefängnis nach Wesel) geführet
den wahren alle holländische Engellische wahren auch alle wahren, wen sie nicht fransosichen fabrisieret wahren, für Conterband gehalten, wen nun die Duwahnen einen mit solchen wahren antrafen nahmen sie es fordt, wer die wahre bey sich hatte wurde ins
gefängnüß auch nach Wesel gebracht die Duwahnen lagen tag und nacht an die weege in büsche und streucher nun lag handel und wandel nieder, viele leute wurden bankrodt und Arm.“
Soweit Theodor Hermann Helmken.

Die Ära Napoleon endete 1814/15. Der Niedergang der Hausweberei aber begann mit dem Aufkommen der industriellen Textilproduktion, einer Konkurrenz, der die heimischen Hausweber nicht gewachsen waren.
..
Während in den anderen Weberstädten des Kreises, in Warendorf, Freckenhorst und Sassenberg, die Weber Arbeit in neu gegründeten Textilfabriken fanden, gelang die Ansiedlung großer Betriebe in Everswinkel nicht. Was es bedeutet, wenn in einer Gemeinde Zweidrittel aller Gewerbetreibenden, die bisher für einen Außenmarkt produziert hatten, arbeitslos wurden und keinen Verdienst erzielten, kann man sich nur schwer vorstellen, zumal man bedenken muss, dass es keinerlei staatliche Unterstützung, kein Arbeitslosengeld gab und auch von kirchlicher Seite keine Hilfe zu erwarten war. Die Innengemeinde verarmte. 

Eine wesentliche Änderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse trat in Everswinkel bis zum Ende des zweiten Weltkrieges nicht ein. Die Innengemeinde blieb weitgehend arm. Charakteristisch für das Dorfbild waren die großen Tennentore, während die Geschäfts- und Werkräume verhältnismäßig klein gehalten waren. Lediglich die Molkerei Roberg und die Maschinenfabrik Lohmann konnten für sich in Anspruch nehmen, mittlere Betriebe mit Arbeitern und Angestellten zu sein.
Noch in den 30er und 40er Jahren war es keine Seltenheit, dass Eltern ihren schulentlassenen Kindern den Rat erteilten: „Geh erst einmal zu einem Bauern und iss dich dort satt. Dann kannst Du immer noch einen Beruf erlernen.“

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